von Professor Dr. Wolfgang Seiffert*
I. Die sich entwickelnde neue Weltordnung
1. Die gegenwärtige Weltordnung befindet sich in einem komplizierten und widersprüchlichen Entwicklungsprozess, der einmal bedingt ist durch die tiefgreifenden politischen und geopolitischen Veränderungen, die mit dem Untergang der Systeme des sogenannten «realen Sozialismus» in Osteuropa und der deutschen Wiedervereinigung erfolgten, andererseits von der zunehmenden Rolle der Staaten Asiens, insbesondere Chinas und Indiens und von den Versuchen der USA, sich eine globale Vormachtstellung zu sichern, bestimmt werden. Gleichzeitig besteht die völkerrechtliche Ordnung der Vereinten Nationen, in deren Weltsicherheitsrat die fünf atomaren Weltmächte (USA, Grossbritannien, Frankreich, Russland und China) mit ihren Vetorechten dominieren, trotz vielfacher Versuche der USA, diese durch rechtswidrige Interpretation beziehungsweise gewaltsam durch völkerrechtswidrige militärische Aktionen zu ihren Gunsten zu ändern, unverändert fort. In letzter Zeit ist sogar zu beobachten, dass die politisch, militärisch und ökonomisch – finanziell geringer werdende Macht der USA diese von Zeit zu Zeit zwingt, sich den Regeln der Uno zu unterwerfen, um in bestimmten Fragen zu einer gemeinsamen Position der fünf Vetomächte zu kommen (Irak, Afghanistan, Iran, Libanon). Schon hier oder gerade hier wird die Rolle Russlands in der Weltordnung besonders sichtbar.
2. Auch wenn man diese Entwicklung nicht überschätzen darf, denn sie widerspiegelt nicht die generelle Position der USA, so sollte sie auch nicht übersehen werden. In seinem Buch «Hybris – Die endgültige Sicherung der globalen Vormachtstellung der USA»1 kommt Chomsky bei aller Betonung dieses Bestrebens der USA doch zu dem Schluss, dass diese Entwicklung auch aufzuhalten sei. Hinzu kommt, dass es zwar immer Versuche und auch Zeiten gegeben hat, in denen eine Weltmacht die internationale Ordnung nachhaltig dominierte beziehungsweise versuchte, eine monopolare Weltordnung zu schaffen. Doch noch nie ist das völlig gelungen2 und auch gegenwärtig wird das nicht gelingen. Ebenso Putin in seiner Rede auf der Sicherheitskonferenz in München.3
3. Die üblichen Einwendungen gegen eine stärkere Rolle der Uno – sie sei schwach, nehme an Bedeutung ab – «übersehen» die Hauptsache, dass nämlich die Uno die einzige weltweit legitimierte Organisation ist, die Frieden und Sicherheit gewährleisten und bei Bedrohung oder Bruch des Friedens rechtswirksam entsprechende Massnahmen einschliesslich der Anwendung von Waffengewalt beschliessen kann und deren Mitglieder sich verpflichtet haben, entsprechend Beistand zu leisten und auf Ersuchen des Weltsicherheitsrates Streitkräfte zur Verfügung zu stellen.4
Infolgedessen verdient die Stärkung der Uno erste Priorität vor allen anderen internationalen Organisationen einschliesslich der Nato.
Wenn alle Mitgliedsstaaten der Uno ihre Verpflichtungen aus der Charta der Vereinten Nationen einhalten, existierte eine multi*polare Weltordnung, die alle akzeptieren können.
Eben dies sollte das Ziel aller Anstrengungen aller politischen Kräfte sein, und dieses Ziel scheint mir auch realistisch zu sein, und eben unter dieser Zielsetzung betrachte ich die Rolle Russlands in der heutigen Weltordnung.
II. Russland als Machtfaktor der Gegenwart
1. Das Russland von heute befindet sich einerseits noch immer in einem Transformationsprozess von der kommunistischen Parteiherrschaft zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft, auf dem vieles erreicht wurde, aber auch Rückschläge zu verzeichnen waren. Doch bei aller berechtigten oder auch unzutreffenden Kritik an seiner inneren Entwicklung oder seinen aussenpolitischen Positionen ist es (wieder) ein Machtfaktor von grossem Gewicht, eine Atommacht, ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates mit Vetorecht, neben den USA der einzige Staat, der im Weltraum ständig präsent ist, Exporteur von Erdöl, Gas, Diamanten und anderen Bodenschätzen, besitzt eine sich entwickelnde Industrie und Landwirtschaft.
Gewiss sind die inneren Hauptprobleme Armut, Korruption, Kriminalität und eine rapide Abnahme des russischen Teils der Bevölkerung, doch Dank hoher Devisenreserven von 182 Milliarden US-Dollar und einem Haushaltsüberschuss von 83,2 Milliarden US-Dollar (das sind 7,7% des BIP) und der fast vollständigen Tilgung seiner Auslandsschulden ist selbst bei einem Verfall des Erdölpreises (der nicht zu erwarten ist), mit einer ökonomischen Krise Russlands nicht zu rechnen.
Das reale BIP-Wachstum betrug im Jahre 2005 6,4%, die reale Lohnzunahme 12,6%, die Investitionen 10,5%.5
Nach Angaben der russischen Zentralbank floss 2006 erstmals mehr ausländisches Geld nach Russland als russisches Geld ins Ausland. Die Kapitalbilanz der russischen Zentralbank verzeichnete für das Jahr 2006 einen Nettozufluss von 14,5 Milliarden US-Dollar.6
Seit dem 1. Juli 2006 ist Russland zur vollen Konvertibilität des Rubels übergegangen, der offizielle Kurs weist den US-Dollar mit 26 Rubel, den Euro mit 34 Rubel aus, und das gilt auch in den Banken und Wechselstuben der Länder der EU. Obwohl sozialpolitische Schwierigkeiten nicht auszuschliessen sind, wird sich die ökonomische Stabilität Russlands weiter verstärken und einen sozialen Ausgleich ermöglichen.
2. Seit 1993 hat Russland eine Verfassung, die sich zu den Menschenrechten, zu Rechtsstaatlichkeit, Privateigentum und Demokratie bekennt7 und verfügt über ein Verfassungsgerichtssystem nach deutschem Vorbild.8
Russland ist Mitglied des Europarates und stellt einen Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, an das sich jeder Bürger der Russischen Föderation wenden kann.
Die Mehrheit der Bevölkerung Russlands hat sich in Wahlen und Abstimmungen zur Verfassung, zum herrschenden politischen System bekannt. Diese Zustimmung ist nicht gleichbedeutend mit Identifikation, aber die unmittelbar nach der politischen Wende 1990/1991 vorherrschende Tendenz, sich auf den Westen zu orientieren, die neue Reisefreiheit vor allem für Aufenthalte und Urlaubsreisen nach Westen zu nutzen und Englisch zu lernen, ist gebrochen. Sonja Margolina – eine in Berlin lebende russische Publizistin – kommt bei ihren Beobachtungen und Analysen zu dem Schluss:
«Die Russen blicken so optimistisch in die Zukunft wie schon lange nicht mehr. Für einen grossen Teil der Bevölkerung hat sich der Lebensstandard verbessert. Iwan Normalverbraucher kümmert sich wenig um Demokratie und Menschenrechte und befürwortet die neue selbstbewusste Politik des Kremls. Der Westen muss sich von der Illusion lösen, dem Land seine Werte aufzwingen zu können. Der Wandel muss von innen kommen.»
Sie verweist auf den engagierten Menschenrechtler Igor Awerkin, der auf einer Tagung in Berlin erklärte: «Wenn ich in Deutschland bin, habe ich das Gefühl, dass ich aus einem faschistischen Staat eingereist komme und ein Opfer bin. Russland aber ist kein faschistischer Staat, und ich bin kein Opfer. Mir geht es gut, und ich tue das, was ich für richtig halte. Und überhaupt: man sollte aufhören, uns Geld zu geben. Wir kommen schon selbst zurecht.»9
Diese Orientierung auf Russland selbst – «Russland den Russen» findet in vielfältigen Formen Ausdruck, nimmt zu und drängt in die Richtung, Russland wieder seinen ihm gebührenden Platz in der Weltordnung zu verschaffen. Dieser Tendenz – die man nicht als «nationalistisch» diskreditieren, sondern als neues Selbstbewusstsein sehen sollte – gab kürzlich der Schriftsteller Alexander Solschenizyn mit seiner Schrift zum neunzigsten Jahrestag der Februarrevolution von 1917 Ausdruck, die als Broschüre in einer Auflage von 500 000 Exemplaren im ganzen Land verteilt wurde. Solschenizyn unterstützt damit Putins Politik, in dem er den neuen russischen Selbstherrscher sieht, dem die Fehler des letzten Zaren, Nikolaus II. nicht unterlaufen dürften.10
3. Jener Teil der politischen Elite Russ*lands, der sich auf Putin orientiert hat, steht gegenwärtig vor der Frage, wohin sich Russ*land unter Berücksichtigung der Gesamtheit der genannten Faktoren in der Zukunft orientieren soll.
Kurzfristig geht diese vor den Wahlen im Dezember dieses Jahres zur Duma, beziehungsweise am 2. März 2008 zur Neuwahl des Präsidenten, offensichtlich davon aus, die hohen Einnahmen aus dem Export seiner Bodenschätze, aber auch seiner Rüstungsindustrie zu nutzen, um die Lebenshaltung der Bevölkerung weiter zu verbessern (wenn auch immer noch nicht ausreichend), in geringem, unzureichendem Masse die eigene Industrie zu fördern und – vor allem nach aussen sichtbar – ehemalige Sowjetrepubliken wieder enger an Russland zu binden.
Doch mittel- und langfristig wird das nicht reichen, und profilierte russische Wirtschaftswissenschaftler sprechen von drei Optionen, zwischen denen sich Russland entscheiden müsse und betonen, dass dies erst unter dem 2008 neu zu wählenden Präsidenten geschehen werde.
Russland müsse wählen – so der bekannte Wirtschaftswissenschaftler Wladimir Gutnik11 – entweder, sich vollständig auf die EU oder auf Asien (China) auszurichten oder aber einen eigenen russischen Weg beschreiten, der zwar vieles übernehme, was sich in Westeuropa bewährt habe, aber doch ein selbständiger, eigenständiger Weg bleibe. Manche verbinden damit die Hoffnung, dass Russland so den Zwängen der Globalisierung entgehen könne, was andere bezweifeln. Doch die mit der Konvertierbarkeit des Rubels erfolgte Integration Russlands als selbständiger Faktor in das internationale Währungssystem sehen viele bereits als ersten Schritt auf diesem eigenen, russischen Weg.
4. Alle hier angeführten Faktoren führen mich zu dem Schluss, dass das unter Putin herausgebildete politische System ein stabiles, dauerhaftes ist, das auch unter einem 2008 neu gewählten Präsidenten fortbestehen wird.
Die im März stattgefundenen Regionalwahlen in 14 Regionen Russlands12 galten allgemein als «Testwahl» für die Duma – Wahlen im Dezember und zeigten die sogenannten «Putintreuen Parteien» als Sieger13 und bestätigen so diese Prognose.
Wenn der im Londoner Exil lebende Oligarch und Putingegner, Boris Abramowitsch Beresowski am 12. April in der britischen Zeitung «The Guardian» dazu aufrief, das gegenwärtige System in Russland mit Gewalt zu ändern: «Man kann es nicht auf demokratischem Wege ändern» – so bestätigt er auf seine Weise diese Einschätzung.14
5. Natürlich kann man gegen solche Wahlergebnisse auch Einwände geltend machen, und sie sind auch geltend gemacht worden; insbesondere dahin, dass einzelne «Oppositionsparteien» zu den Wahlen nicht zugelassen wurden.15
Jedoch handelte es sich hier regelmässig darum, dass Vorraussetzungen für die Zulassung zu den Wahlen, wie sie das Wahlgesetz vorsieht, nicht erbracht wurden, oder bei den Wahlen die 7%-Klausel nicht erreicht wurde.16
Aber nicht nur an einzelnen Wahlakten, sondern auch am politischen Gesamtsystem ist grundsätzliche Kritik geübt worden.
So sieht Lilia Schewzowa von der Carnegiestiftung in Moskau das politische System im Russland von heute als einen «bürokratischen Kapitalismus» an, der mit Liberalität und Demokratie wenig zu tun habe.17
Ähnlich kommt Mommsen zu dem Schluss, in Russland sei ein «System Putin» entstanden, das auf der Besetzung aller wichtigen staatlichen Positionen mit ehemaligen Geheimdienstlern, Militärs und «Petersburgern» beruhe und mit der «gelenkten Demokratie» in Richtung eines «autoritären Regimes» gehe.18 Etwas russlandfreundlicher gibt sich Erler in seiner Schrift «Russland kommt».19 Doch auch er kommt zu dem Schluss, das Russland Putins gehe von der «gelenkten Demokratie» zur «autokratischen Demokratie».
Alle solchen Analysen enthalten diese oder jene zutreffende Beobachtung,20 doch die unter Putin bisher ergriffenen Massnahmen halten sich im Rahmen der geltenden Verfassung. Es ist überhaupt ein spezifisches Merkmal Putins, dass er sich nicht nur im Rahmen der Verfassung zu halten sucht, sondern bewusst den Rechtsstaat als Instrument zur Durchsetzung seiner politischen Ziele zu nutzen sucht.21
Solche Analysen weisen zudem regelmässig prinzipielle Mängel auf, die den Blick auf die russische Wirklichkeit verstellen.
Der hauptsächlichste Mangel besteht darin, dass die Autoren die Entwicklung in Russland – direkt ausgesprochen oder unausgeprochen – daran messen, wieweit sich diese den westlichen Werten und Demokratievorstellungen annähern oder davon abweichen. Sie sind regelmässig darauf fixiert, in Russland müsse die sogenannte «Zivilgesellschaft» etabliert werden, ohne dass sie jemals definiert hätten, was sie darunter verstehen.22 Dabei war immer klar, dass Russland unter Putin an der «russischen Idee» festhalten wird23 und alle Versuche, Russland nach westlichen Modellen auszurichten, scheitern mussten und gescheitert sind, weil man ein Land und ein Volk von der Grösse Russlands mit seiner Geschichte, Sprache und Kultur nicht dazu bringen kann, seine eigene Identität zu verleugnen.
Es ist die Ironie der Geschichte, dass solche Russlandpolitik gerade dazu beigetragen hat, dass dieses Land sich jetzt mehr denn je auf seine eigenen Interessen, Potenzen und Wege besonnen hat24.
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