Keine Ahnung ob es schon hier irgendwo war. Ist aber lesenswert.
http://www.zeit.de/2007/23/Zigarette-Helmut-Schmidt
Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt
Jede Woche bezieht der Altbundeskanzler und ZEIT-Herausgeber im ZEITmagagzin LEBEN Stellung zu einem aktuellen politischen Thema. Teil 2: Müssen wir Russland fürchten?
Altbundeskanzler und ZEIT-Herausgeber Helmut Schmidt
Lieber Herr Schmidt, müssen die Deutschen wieder Angst haben vor den Russen?
Die Antwort ist: Nein. Russland ist eine große Macht, aber seit der Implosion der Sowjetunion haben die Russen ihre Grenzen niemals überschritten. Das hatten sie früher am laufenden Band getan.
Sie bewundern Russland!
Die Russen sind und bleiben ein großes Volk, eine große Nation mit einigen Parallelen zu den europäischen Nationen. Eine liegt auf dem Feld der Musik und der Literatur, ob Sie Tschaikowsky nehmen oder Prokofjew. Oder nehmen Sie Dostojewskij oder Tolstoj, Turgenjew oder Solschenizyn. Die sind Teil der europäischen Kultur. Eine andere Parallele ist der Kolonialismus. England, Frankreich, Spanien, Portugal und Deutschland haben Kolonialreiche errichtet in Asien, in Südamerika, in Afrika. Die Russen haben zur gleichen Zeit ein Kolonialreich in Sibirien errichtet. Gleichwohl, in einem wichtigen Punkt gibt es keine Parallele: In Europa hat sich weitgehend die Aufklärung durchgesetzt – zum Beispiel Menschenrechte und Demokratie. Russland aber hat sich verschlossen gegenüber der Aufklärung, und diejenigen Intellektuellen, die sich dafür empfänglich zeigten, mussten das Land verlassen oder wurden gerade noch geduldet. Diese Tradition setzt sich fort bis heute.
Verklären Sie Russland nicht? Es gibt so viele Gründe, das Land noch zu fürchten: die Steuerung der ethnischen Konflikte im Baltikum, die Schikane bei der Erdgaszulieferung, die Kujonierung von Oppositionellen bis hin zur Ausschaltung jeder freien Presse.
Die Behinderung der freien Presse ist kein Grund zur Begeisterung, aber wir müssen Russland deswegen nicht fürchten, auch nicht wegen der anderen unerfreulichen Punkte, die Sie nennen. Ich denke nicht daran, Russland zu verklären, doch wir brauchen normale Beziehungen zu diesem wichtigen Nachbarn.
Aber das Verhältnis zu Europa war unter Gorbatschow, dem Vielgeliebten, und auch unter dem trinkenden Jelzin besser als unter Putin.
Anders als ihre sowjetischen Vorgänger haben weder Gorbatschow noch Jelzin, noch Putin mit ihren Soldaten die russischen Grenzen überschritten. Gorbatschow wurde in Europa geliebt, nicht in Russland. Ein Regierender, der zu Hause keine Basis hat, kann nichts bewirken. Jelzin hat eine vorsichtige Außenpolitik betrieben, während im Inneren seines Landes Tohuwabohu herrschte. Jetzt erleben wir wieder eine straffe Regierung in Moskau. Putin ist nicht so diktatorisch wie die letzten Zaren und jedenfalls sehr viel weniger diktatorisch als Lenin und später Stalin oder dann Chruschtschow.
Gilt denn für Sie immer: Stabilität in einem Land und in den Beziehungen zu den Nachbarn ist besser als die Einhaltung der Menschenrechte?
Die Einhaltung der Menschenrechte ist überall wünschenswert. Es ist genauso wünschenswert, dass auswärtige Mächte sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines Staates einmischen.
Das kann vielleicht der Politiker Schmidt sagen, dem ZEIT-Herausgeber müsste schon allein das Schicksal unserer Kollegen von der »Nowaja Gaseta« am Herzen liegen, für die auch die ermordete Journalistin Anna Politkowskaja schrieb.
Ich muss das auch als ZEIT-Herausgeber allen Ernstes sagen. Dass Journalisten oder politische Gegner behelligt werden, ist keine russische Spezialität. Denken Sie an Watergate – dergleichen finden Sie in Afrika, in Lateinamerika, auch in Europa.
Das macht es nicht erträglicher.
Seit tausend Jahren wird Russland autoritär und diktatorisch regiert. Die politische Kultur Russlands besteht aus Diktatur.
Und das wird auch so bleiben?
Das ist wirklich zu befürchten.
Das Gespräch führte Giovanni di Lorenzo
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