Putin "sorgt" sich um Kiew
von René Bondt
Vielleicht war das Ganze ja bloss eine Finte des Machtapparats, um die Opposition einzulullen und dem Intimus des scheidenden Staatspräsidenten Kutschma in der Endausmarchung vom 21. November eine Gasse zum Sieg zu bahnen. Die ukrainische Wahlbehörde zierte sich jedenfalls bis zum letzten legalen Augenblick und tat der Öffentlichkeit erst zehn Tage nach dem unsauber verlaufenen Urnengang kund, der «Westler» Wiktor Juschtschenko habe um Haaresbreite besser abgeschnitten als der prorussische Regierungschef Wiktor Janukowitsch. Die zwei Präsidentschaftskandidaten erzielten offiziell je rund 39% der Stimmen, womit sie klar unter der absoluten Mehrheit blieben, jedoch fürs Schlussduell vom nächsten Sonntag qualifiziert sind.
Die beiden Wiktors stehen nach dem unzimperlichen zehnjährigen Regiment des früheren Raketenbauers Leonid Kutschma für diametral unterschiedliche Entwürfe zur politischen und gesellschaftlichen Zukunft des grossen, aber «vergessenen» Flächenstaats Ukraine. Während der Westen des 48-Mio.-Landes – katholisch, wie das benachbarte Polen – die Option Europa anstrebt, neigt die orthodoxe, russischsprachige Ostukraine dem grossen Bruder und wiederentdeckten Wirtschaftspartner im Osten zu.
Juschtschenko, verheiratet mit einer Amerikanerin, repräsentiert die okzidentale Strömung: Von ihm erwarten seine Anhänger, dass sich die in Ansätzen stecken gebliebenen Kontakte Kiews mit der EU und der Nato intensivieren. Janukowitsch dagegen, ein Mann aus der schwerindustriellen Region Donezk, soll nach dem Willen Kutschmas – der weiterhin als graue Eminenz die Koordinaten ukrainischer Politik festlegen möchte – die Annäherung an Putins Russland fortführen.
Als die Sowjetunion 1991 kollabierte und sich an den Rändern des Imperiums selbständige Republiken bildeten, war das für die Ukraine eine Gratwanderung in die Ungewissheit. Hier lockte das System der Marktfreiheit, der privaten Opportunitäten und Profite, dort wirkten energiewirtschaftliche und rüstungsindustrielle Abhängigkeiten aus Sowjetzeiten fort. In 13 Unabhängigkeitsjahren hat sich die ukrainische Absicht, eigenstaatlich zu bleiben, verfestigt. Innenpolitisch allerdings zeigen die «gelenkten Demokratien» Russlands und der Ukraine heute ein ähnliches Gesicht: Machteliten und ihre rüden Erfüllungsgehilfen halten die Opposition nieder, und mit der Gleichschaltung der Medien leben Vertreter des allzu freien Worts gefährlich. Mafiöse und oligarchische Einflüsse sind in der Ukraine für ein investitionsunfreundliches Wirtschaftsklima verantwortlich. Substanzielles Wachstum wird – auf bescheidener Basis – erst seit kurzer Zeit gemessen.
Kurz vor der ersten Wahlrunde nahmen Kremlchef Wladimir Putin und sein Amtskollege Kutschma in Kiew gemeinsam eine Militärparade ab. Äusserer Anlass war der 60.Jahrestag der Befreiung der ukrainischen Metropole aus nazideutscher Hand. Nur zwei Wochen später reiste der Russe im Bestreben, abtrünnige Glieder der früheren Sowjetreichs wieder enger ans russische «Mutterland» zu binden, auf die Krim. Der doppelte Abstecher in die Ukraine diente der Stimmungsmache für Janukowitsch. Denn eine europawärts driftende, demokratisch erneuerte Ukraine hätte Rückwirkungen auf Putins Position. Oder wie es das Moskauer Nationalistenblatt «Zawtra» ausdrückt: «Würde Janukowitsch geschlagen, könnte Putin durchaus das nächste Ziel einer ‹samtenen Revolution› sein.»
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