Russland wird Tankstelle der Welt
Die gewaltigen Ölreserven des Landes verführen ausländische Firmen zu riskanten Investitionen - Am Mittwoch beginnt der Prozess um den Yukos-Konzern
von Jens Hartmann
Sumpf. Nur Sumpf. Flussläufe, noch bis Juni von einer leichten Eisschicht bedeckt, führen ins Nichts. Nur wenige Wochen, dann wird alles überschwemmt sein. Land unter in Westsibirien. Und dann kommen die Stechmücken, neben dem Winter die zweite Plage Sibiriens.
Vom MI-8-Hubschrauber aus, wird schnell sichtbar, warum Sibirien nicht verloren ist. Bohrtürme, daneben hell lodernde Fackeln, die das bei der Ölgewinnung anfallende Gas abbrennen. Im Städteviereck Nischewartowsk, Nefteyugansk, Tjumen und Surgut liegt Russlands Reichtum verborgen. Die größten Ölkonzerne des Landes, Yukos, Lukoil, Surgutneftegaz, Sibneft und TNK, fördern hier ein Fünftel des russischen Bruttoinlandsprodukts zu Tage.
Im vergangenen Jahr produzierten die Ölkonzerne 421 Millionen Tonnen Erdöl, mehr als Branchenprimus Saudi-Arabien. In diesem Jahr wollen sie, egal ob die Opec die Fördermenge begrenzt, den Output um mindestens zehn Prozent erhöhen. Im April förderte Russland neun Millionen Barrel (1 Barrel = 159 Liter) pro Tag, das sind elf Prozent der Weltproduktion. Westliches Know-how hat Einzug gehalten in die russische Ölindustrie. Kaum ein großes Unternehmen, das nicht einen für viel Geld abgeworbenen Texaner oder Briten angestellt hat, der für die Produktion oder die Finanzen verantwortlich zeichnet.
Auch wenn deutlich mehr investiert werden müsste, um die Produktion mittelfristig zu steigern: Dank dieses Wissenstransfers sind die noch vor wenigen Jahren schrottreif anmutenden Förderstätten zu interessanten Objekten geworden. Es lohnt sich, in Russland Öl zu fördern. Im vergangenen Jahr lag der Reingewinn aller Ölkonzerne bei 25 Milliarden Dollar, der Umsatz betrug 70 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Alle russischen Ölunternehmen wurden - oftmals bei Insidergeschäften - für zusammen weniger als fünf Milliarden Dollar privatisiert. Das schwarze Gold hat dafür gesorgt, dass in Moskau mittlerweile mehr Milliardäre (33) als in New York (31) leben.
Die Multis kommen. BP machte vor einem Jahr den Anfang und ging mit TNK ein 14-Milliarden-Dollar-Joint-Venture ein. Als unterschrieben wurde, saß Putin mit am Tisch. Nun verkündete der Finanzvorstand des französischen Mineralölkonzerns Total, Robert Castaigne, man sei an einer Sperrminorität bei Sibneft interessiert. Geschätzter Preis: vier Milliarden Dollar. Nun hat auch Conoco-Philips sein Interesse im Wirtschaftsministerium angemeldet, 7,6 Prozent bei Lukoil zu übernehmen.
"In diesem Jahr werden wir mit Sicherheit noch Milliardenakquisitionen oder Fusionen mit der Beteiligung von westlichen Multis in der russischen Ölbranche erleben", sagt Paul Collison, Ölanalyst bei dem Brokerhaus Brunswick UBS. Tatsächlich verhandeln auch Chevron Texaco, Royal Dutch/Shell, Exxon Mobil und andere über einen Einstieg. Collison hat vorgerechnet, dass Russland auf viel mehr Öl sitzt als bisher angenommen. Das Land verfüge nicht über 60 Milliarden Barrel, sondern über 180 Milliarden Barrel an Reserven. Damit habe nur Saudi-Arabien mit 264 Milliarden Barrel ein größeres Potenzial.
Die russische Ölindustrie ist für Westler interessant, weil die Reserven unterbewertet und, anders als in den meisten Ölförderstaaten, in privater Hand sind. Unter den Top Four weltweit sind, nach Reserven gerechnet, zwei russische Konzerne, Lukoil und Yukos. Jurij Trutnev, Minister für Rohstoffressourcen, hält den Granden der Branche indes vor, mutwillig Reserven zu horten, um den Börsenpreis nach oben zu treiben. "In den Regionen sind die großen Konzerne Quasi-Monopolisten, die ein Bohrloch nach dem anderen übernehmen - egal ob sie es jemals ausbeuten wollen." Für Trutnev fehlt der Wettbewerb, der die russische Ölindustrie effektiver als bisher machen könnte. "Kleinere Ölfirmen werden von den Großen an die Wand gedrückt."
Während Trutnev für mehr privaten Wettbewerb eintritt, will sein Chef, Präsident Putin, den Staat als Big Player in der Ölbranche sehen. Die Schlacht um Yukos, den größten Ölkonzern des Landes, zeigt, dass der Kremlchef eine teilweise Verstaatlichung des Ölsektors anstrebt. Staatsanwälte, Richter und Steuerfahnder werden als Instrumente eingesetzt, um Yukos zu enteignen. Ex-Yukos-Chef Michail Chodorkowskij sitzt seit Oktober in Untersuchungshaft. An diesem Mittwoch startet die Hauptverhandlung.
So hat bereits der Staatskonzern Gazprom Interesse an Yukos-Aktiva angemeldet. Wie es der Zufall so will: Bis Ende des Jahres will der Erdgasmonopolist groß ins Ölgeschäft einsteigen. Allein, der Tochter Gazpromneft fehlen dafür die Ölvorräte, über die Privatkonzerne wie Yukos (noch) verfügen.
Auf einen Schlag wäre der Kreml, der bislang nur den unbedeutenden Erdölkonzern Rosneft kontrolliert, Marktführer.
Putin verfügt dabei über einen mächtigen Hebel: die Pipelines. Russlands Pipeline-Netz wird von der staatlichen Transneft gemanagt. Auch wenn die privaten Ölkonzerne Röhren verlegen wollen, um die Exportkapazitäten nach Asien zu steigern, und mit einer Pipeline bis hin zum Eismeerhafen Murmansk liebäugeln, von wo aus Tanker Richtung USA starten könnten, stoppt der Kreml solche Privatinitiativen. "Unsere Kapazität ist erschöpft", sagt jedoch Transneft-Chef Simon Weinstock. "Die Pipelines werden zum Flaschenhals." Der Staat scheut Investitionen. So würde allein der Bau einer Öl- und Gaspipeline von Sibirien bis an den Pazifikhafen Nachodka zwölf Milliarden Dollar kosten.
Ohne Putin geht für die Ausländer gar nichts. So reichte der weltgrößte Erdölkonzern Exxon-Mobil 42 000 Seiten an Dokumenten ein, um dann vom Kreml zu hören: Der Kauf eines Yukos-Aktienpakets - es ging um einen 40-Prozent-Anteil für 15 Milliarden Dollar - kommt nicht infrage. Putin war dem Vernehmen nach außer sich, als Exxon-Mobil-Chef Lee R. Raymond bei einem Treffen im Kreml anfragte, ob es Einwände gäbe, wenn der US-Multi gar die Aktienmehrheit an Yukos übernehme.
Doch selbst wer das Ohr des Präsidenten hat, ist in Gefahr, nicht gehört zu werden. Noch vor einigen Wochen liefen die BP-Geschäfte in Russland reibungslos. Nun häufen sich Hiobsbotschaften: Da stellen staatliche Behörden die Förderlizenz für das Samotlor-Feld, eines der größten Ölreservoirs der Welt, das TNK-BP ausbeutet, infrage. Da ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Topmanager einer Tochter, weil sie angeblich Ölfelder ohne Erlaubnis anzapften.
"Auch wenn westliche Investoren Partnerschaften mit russischen Oligarchen eingehen, die das Wohlgefallen des Kreml haben, müssen solche Beziehungen nicht dauerhaft wie im Permafrost fixiert sein", kommentierte die "Financial Times". Und sicher vor Enteignungen sind die Ausländer auch nicht. Exxon-Mobil musste mit ansehen, wie eine vor zehn Jahren erteilte Genehmigung für den Abschnitt Sachalin-3 für nichtig erklärt wurde. Es gibt schlechtere Zeiten für Geschäfte, findet jedoch der inhaftierte Ölbaron Chodorkowskij. "Glauben Sie etwa", sagte er eine Woche vor seiner Verhaftung, "dass das Investitionsklima in ölreichen Staaten wie Nigeria besser ist als bei uns?"
Artikel erschienen am 13. Juni 2004
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