
Zitat von
Froll
Vor dem Hintergrund einer weltweiten Protestbewegung nach dem Vorbild von „Occupy Wall Street“ drängt die neue, möglicherweise zwölfjährige, Regentschaft Putins zur Reflexion über den russischen Sonderweg, den Amerikanischen Normalweg und den Endpunkt der beiden Routen.
Das Pathos, mit dem im Namen der Demokratie beschworen, gestritten und geschossen wird, bereitet zunehmend Verdruss. Natürlich gibt es außer ideologischen Klischees eine nüchternere Betrachtungsweise, wie sie zum Beispiel Winston Churchill zu eigen war, der bekannterweise Demokratie für die schlechteste Regierungsform mit Ausnahme all der anderen Formen hielt. Aber selbst eine solche Interpretation befreit nicht das gegenwärtige Politgeschäft von einigen Grundfragen: Was wird aus einer Demokratie, wenn gut organisierte Lobbyisten alle Zweige der Macht unterwandern? Wenn die Leitmedien sich mehr um Herstellung von Konsens als um Objektivität und Meinungsvielfalt kümmern? Wenn das Volk als Souverän mehr am Alltag und Unterhaltung – an „Brot und Schauspielen“ – als an großer Politik interessiert ist?
Postdemokratie auf russische Art
Hierzulande scheinen die Antworten zwei Jahrzehnte nach dem Anfang eines demokratischen Experiments endgültig zu sein: Russland schlitterte in eine Postdemokratie hinein. Die sogenannten Oligarchen – ein Zerfallsprodukt der sozialistischen Planwirtschaft – bildeten durch Verschmelzung mit dem hohen Beamtentum eine geschlossene Kaste. Geschützt durch brotberuflichen Journalismus und Lethargie der Bevölkerung lässt diese neue Aristokratie jeden Stand nach seiner Façon selig werden. Dem unterprivilegierten Mittelstandsvolk gibt die herrschende Minderheit eine Chance, zwischen den Wogen des freien Marktes und den Klippen des korrupten Staates einen Weg zum Wohlstand zu finden; den aufmüpfigen Dissidenten schenkt sie ein bisschen Freiheit, sich auf einigen Radiofrequenzen auszutoben; dem kleinen Mann gewährt sie das gute Recht, auf eigene Verantwortung vor sich hinzuwursteln und dabei die Obrigkeit ganz zensurfrei mit auserlesensten Mutterworten zu belegen. Die allgemeine Stimmung im Lande ist: Ob Demokratie, Sowjetmacht oder Monarchie, Russland war und bleibt dasselbe. Hatte Oswald Spengler doch Recht, als er 1933 über die Sowjetunion prophezeite: „Sicher ist, dass sich tatsächlich nicht viel ändern würde, wenn man eines Tages aus Gründen der machtpolitischen Zweckmäßigkeit das kommunistische Prinzip fallen ließe. Die Namen würden anders werden; die Verwaltungszweige der Wirtschaftsorganisationen würden Konzerne heißen, die Kommissionen Aufsichtsräte, die Kommunisten selbst Aktienbesitzer“.
Postdemokratie Made in USA
Die Einwohner der „leuchtenden Stadt auf dem Hügel“ lachen über die obszöne Selbstverständlichkeit, mit welcher Dmitrij Medwedjew Machtinsignien an Wladimir Putin zurückgegeben hat. Das kernige Lachen von Übersee, verstärkt durch westliche und prowestliche Medien, übertönt ein leises verschmitztes Kichern, das aus Russland zurückhallt: Nicht weniger skurril wirkt doch jene eiserne Kontinuität der US-amerikanischen Politik, zu deren unveränderbaren Repertoire parteipolitisch legitimierte Eroberungskriege, unbehelligte Kriegsverbrecher und hochprivilegierte Banken ebenso gehören, wie von einer Massenpsychose ergriffene Wählerschaft und Jubelrufe: „Change!“, „Yes, we can!“ „Wettbewerb ist eine Sünde“ soll John D. Rockefeller gesagt haben. Während eine konsequente Anwendung dieses Prinzips den freien Markt und damit den Individualismus der US-Amerikaner aushöhlt, zerstört der „Krieg gegen den Terr*r“ Freiheitsethos Amerikas. In seiner berühmten Abschiedsrede 1961 warnte Präsident Dwight D. Eisenhauer ausdrücklich: "Wir … müssen uns vor unbefugtem Einfluss -- beabsichtigt oder unbeabsichtigt -- durch den militärisch-industriellen Komplex schützen. Das Potential für die katastrophale Zunahme fehlgeleiteter Kräfte ist vorhanden und wird weiterhin bestehen. Wir dürfen es nie zulassen, dass die Macht dieser Kombination unsere Freiheiten oder unsere demokratischen Prozesse gefährdet. " 50 Jahre danach sagt Larry Wilkerson - ein Republikaner, der unter Colin Powell Stabschef im amerikanischen Außenministerium war – im Interview mit dem Online-Sender The Real News Network: „Ich bin keinesfalls sicher, … dass meine Enkelkinder in einer demokratischen Bundesrepublik leben werden“. In der Tat kann man manchmal die US-Amerikanischen Republikaner und Demokraten mit dem heimischen „Einigen Russland“ und „Gerechten Russland“ verwechseln - abgesehen von noch etwas grobschlächtigen Inszenierungsmethoden russischer Politstrategen. Dass in kaum mehr als 20 Jahren zwei Familien – Bush und Clinton – den Vereinigten Staaten drei Präsidenten und eine Staatssekretärin schenken durften, ist für eine Demokratie ebenfalls eine symptomatische Kuriosität. Übrigens gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen Demokratie russischen und US-amerikanischen Typs: Hier wird die Politik von einer Beamten-, dort von einer Konzernaristokratie gelenkt; hier ist die administrative Ressource ausschlaggebend, dort - finanzielle Beeinflussung. Es ist vor allem größere Sichtbarkeit der administrativen Steuerung im Vergleich zur finanziellen, die das Regime Russlands so minderwertig erscheinen lässt. Doch, bezwingbar oder käuflich, bleibt die realexistierende Demokratie von der demokratischen Verheißung fern.
Das verzweifelte Aufbäumen der Demokratiegläubigen?
Die Wirtschaftskrise entblößt weltweit gravierende Asymmetrien bei der Ressourcen- und Machtverteilung. Empörung treibt die Unbeteiligten an den Wahllokahlen vorbei auf die Straßen. Optimisten hoffen, dass diese gewaltige Manifestation von Zivilcourage eine demokratische Erneuerung mit sich bringt. Doch eine über die Jahren andauernde Erosion demokratischer Landschaften zeigt, dass in hochkomplexen Gesellschaften eine Demokratie nur dann möglich ist, wenn Zivilcourage der Bürger durch entsprechende Zivilkompetenzen ergänzt wird. Gefragt sind Mehrheiten, die nicht nur einen Atomausstieg erzwingen können, sondern sich auch für geopolitische Themen interessieren, manipulative Praktiken durchschauen und darauf flexibel reagieren. Demokratie braucht einen Demos, sonst entartet Volkssouveränität in eine Ochlokratie. Bei aller Sympathie für Protestierende, weist die anschwellende Antibankenbewegung mit ihren diffusen Forderungen diese Kompetenzen nicht auf. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Aktionen wie „Occupy Wall Street“ in New York oder „Marsch der Unzufriedenen“ in Moskau eventuell ins Leere laufen oder, noch schlimmer, in die Hände künstlich aufgebauter Polit-Messias spielen werden. Eines ist klar: Jeder erfolgloser Demokratisierungsanlauf zermürbt die politische Mitte, ermüdet die Öffentlichkeit und bewirkt Abkehr vom Politischen hin zum Privaten. Wenn sich das Massenbewusstsein keinen qualitativen Sprung leistet, landet auch der Westen in einer postdemokratischen Realität. Und verblüffend weitsichtiger Spengler darf mit seinen Prognosen noch einmal Recht behalten. In der Zukunft, meint er, „gibt es keine politischen Probleme mehr. Man findet sich ab mit den Lagen und Gewalten, die vorhanden sind. Ströme von Blut hatten […] das Pflaster aller Weltstädte gerötet, um die großen Wahrheiten der Demokratie in Wirklichkeit zu verwandeln und Rechte zu erkämpfen, ohne die das Leben nicht wert schien, gelebt zu werden. Jetzt sind diese Rechte erobert, aber die Enkel sind selbst durch Strafen nicht mehr zu bewegen, von ihnen Gebrauch zu machen. Hundert Jahre später, und sogar die Historiker verstehen die alten Streitfragen nicht mehr.“
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