Von Eduard Steiner 2. Februar 2010, 12:39 Uhr

In der Sowjetzeit hat Russland Städte gebaut, die oft nur an einem Unternehmen hingen. So wohnen rund 750.000 Menschen in

Togliatti, der russischen Autostadt. Doch nun ist nicht mehr genug Arbeit da. Die Gegend verarmt – und zwar so sehr, dass den

Bürgern das Geld zum Umzug fehlt. Der Staat springt ein.

Von Togliatti nach Tichwin ist es weiter als von Rom nach Berlin. Ganze 1600 Kilometer liegen zwischen den beiden russischen

Städten. Die eine ist das Zentrum der russischen Ladaproduktion, am klimatisch verträglichen Mittellauf der Wolga. Die andere,

in der Teile für Eisenbahnwaggons und bald auch ganze Wagen produziert werden, liegt im winterlich dunklen Norden.

Noch sind die Koffer in Togliatti nicht gepackt. Aber demnächst dürften Hunderte Familien ihr Hab und Gut einwickeln und sich

auf die Reise in den Norden begeben. So sieht es das neue Umsiedelungsprogramm der russischen Regierung vor. An die 500

Millionen Rubel (zwölf Millionen Euro) hat die Agentur für Wohnkreditumschuldung (ARIZK) dafür bereitgestellt.

Die Menschen in Togliatti sollten den Absprung aus der Monogorod schaffen. So nennt man in Russland in der Sowjetzeit

entstandene Monostädte, die am Tropf eines einzigen stadtbildenden Unternehmens oder mehrerer Unternehmen mit einem

zusammenhängenden Produktionsprozess hängen. Im Falle Togliattis leben die 750.000 Einwohner von Russlands größtem

Autoproduzenten Avtovaz. Nachdem der einheimische Automarkt im Vorjahr um die Hälfte eingebrochen ist, kann Avtovaz nicht mehr

alle seine 100.000 Mitarbeiter halten. Und auch in Zukunft wird Avtovaz sie kaum wieder einstellen, sollte die überfällige

Modernisierung des Werks gelingen.

Die Wirtschaftskrise hat nicht nur Russlands jahrelangen Boom jäh unterbrochen und im Vorjahr zu einer Rezession von 8,5

Prozent geführt. Sie hat auch gerade das gravierende Problem der Monostädte wieder akut gemacht.

Das Erbe des sowjetischen Siedlungsplans wiegt in ihnen schwer, zumal die Städte teilweise in den unwirtlichsten Gegenden

angesiedelt sind. Nicht allen von ihnen geht es schlecht, manche - etwa die Ölstädte Westsibiriens - florieren. Insgesamt zählt

die ARIZK 350 Monostädte mit 16 Millionen Einwohnern. In 17 der Städte gilt die Situation inzwischen als kritisch.

Im Unterschied zu Monostädten in anderen Ländern sind in den russischen Orten die Infrastruktur und der Dienstleistungssektor

jenseits der Hauptfabrik sträflich unterentwickelt, sodass zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten rar sind. Dazu kommt, dass die

Rohstoffe, an denen solche künstlichen Städte hängen, versiegen.

Zwei Dutzend Monostädten hat die Regierung im Vorjahr staatliche Subventionen und Kredite in Höhe von einer halben Milliarden

Euro zugesagt. Nun werden neue Hilfspakete geschnürt. Vereinzelten Aussagen zufolge denkt der Staat bei kleineren und völlig

aussichtslosen Städten sogar über eine komplette Umsiedelung nach. Den Umzug der ehemaligen Avtovaz-Mitarbeiter verstehen die

Moskauer Bürokraten als Testlauf.

Den Übersiedlungswilligen sagen sie nicht nur einen Arbeitsplatz im neuen Waggonwerk in Tichwin zu. Mit einer Hypothek auf das

zurückgelassene Eigenheim erhalten sie von der Wohnungsagentur auch einen vergünstigten Kredit zum Kauf einer Bleibe in der

neuen Stadt. Doch das Programm hat einige Haken, weshalb es vermutlich nur wenige annehmen werden, schreibt die Zeitung

"Wedomosti". Zum einen gestalte sich die Bewertung von Immobilien in wirtschaftlich schwachen Regionen schwer. Zum anderen

würden die Leute mit der Auswahlbeschränkung auf Tichvin wieder in eine Monostadt versetzt.

Zumindest liege man mit der Logik des Programms richtig, sagt Natalja Zubarevich vom Institut für Sozialpolitik in Moskau: Man

müsse den Leuten aus den depressiven Städten ausbrechen helfen.

Die Russen brauchen diese Hilfe offenbar - aus eigenem Antrieb nämlich schaffen sie es kaum. "Die geografische Mobilität ist

gering", sagt Sergej Gurijev, Rektor der New Economic School in Moskau: "Der russische Arbeitsmarkt ist der am wenigsten

dynamische unter allen osteuropäischen Ländern". Statistisch ziehen in Russland nur zwei Prozent der Bürger in ihrem ganzen

Leben innerhalb des Landes auf der Suche nach Arbeit um. In den USA sind es dagegen fast 20 Prozent.

Das bisherige russische Programm zur Umsiedlung, das sich vor allem auf Regionen des äußersten Nordens bezieht, scheiterte

vielfach an administrativen Barrieren, vor allem aber an den unterentwickelten Wohnungs- und Finanzmärkten, wie Gurijev

erklärt. Untersuchungen würden zeigen, dass Russen, die aus einer wirtschaftlich schwachen Region in eine prosperierende

umsiedeln wollen, den Umzug angesichts der hohen Kreditzinsen mit ihrem geringen Lohn nicht vorfinanzieren können.

Das starke regionale Lohngefälle werde daher nicht ausgeglichen. Und der Teufelskreis in einem Drittel der Regionen des Landes

sei perfekt: Weil die Menschen nicht wegkommen und in ihrer Region keine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt herrscht, bleiben die

Löhne niedrig und werden im Zuge der Krise noch weiter gekürzt.

http://www.welt.de/multimedia/archiv...s_1007427g.jpg

Familien werden in Russland um 1600 km umgesiedelt

02.02.2010,
14:07 Uhr Samo sagt:
Endlich mal ein vernünftiger Artikel über Russland auf Welt Online, ohne Russland-Hetze.
Dieses Problem mit den Monostädten ist in Russland tatsächlich sehr ausgeprägt. Zudem gibt es viele kleine Dörfer, in denen die

Jungen alle weggezogen sind und nur noch Rentner leben.
Allerdings gibt es hier in Deutschland auch Monostädte, die ähnliche Tendenzen aufweisen. In Sindelfingen oder Dingolfing spürt

man die Krise auch stärker als anderswo. In Sindelfingen beispielsweise gehen die Steuereinnahmen deutlich zurück, so dass eine

Schule geschlossen werden muss.

02.02.2010,
14:24 Uhr MIC sagt:
was heißt eigentlich "klimatisch verträglichen Mittellauf der Wolga". Im Winter gibt es in Togliatti Temperaturen von bis zu -

40 Grad, so dass die Wolga obwohl 17km breit zufriert. Ich war lange genug da um zu wissen, dass der Winter in Togliatti nicht

klimatisch erträglich ist.

02.02.2010,
15:27 Uhr Andrea Mayer sagt:
Wir hätten halt wie Andreas Meyer mehr blaue Nivas kaufen sollen...

02.02.2010,
15:33 Uhr Peter sagt:
@ Samo
... In Sindelfingen beispielsweise gehen die Steuereinnahmen deutlich zurück, so dass eine Schule geschlossen werden muss. ...
War da nicht vielmehr was mit sinkenden Schülerzahlen und Werkrealschulen statt Hauptschule die Ursache?
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