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Bedeutung Russlands für Europa und Europas für Russland:
Bedeutung Russlands für Europa und Europas für Russland: Gegenseitig vorteilhafte Aspekte der Zusammenarbeit
(Dr. rer. oec. Wladislaw Inosemzew, Leiter des Forschungszentrums für die postindustrielle Gesellschaft, hat seine Ansichten zur Gegenwart und Zukunft der Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union (EU) dargelegt.) Im Vorfeld des EU-Russland-Gipfels erfüllt sich die Frage mit neuem Inhalt, die die Bedeutung Russlands für Europa und Europas für Russland betrifft.
Ökonomisch gesehen ist Russland von heute ein Bestandteil Europas. Die akkumulierten Direktinvestitionen der Europäer in die Wirtschaft der Russischen Föderation haben einen Anteil von 75 Prozent an den Gesamtinvestitionen. Europäische Investoren hatten Russland 2000-2001 für sich erschlossen. Besonders bekannt sind große Geschäfte wie der Erwerb eines Anteils am russischen Ölkonzern TNK durch British Petroleum (BP) für fünf Milliarden Euro im Jahr 2002, der Kauf von 25 Prozent der Anteile am Mobilfunkanbieter MTS durch die Deutsche Telekom, die Konsolidierung von knapp sechs Prozent der Gasprom-Papiere durch die Ruhrgas wie auch der Erwerb von 25 Prozent der Aktien der Versicherungsanstalt Rosno durch Allianz.
Die Europäer sind im Bereich der Konsumgüterproduktion, im Handel und Finanzbereich präsent, worauf man in Russland immer mehr aufmerksam wird.
Nachstehend einige Beispiele. In der Süßwarenindustrie dominiert der Konzern Nestle, der in Russland vier Milliarden Euro angelegt hat und gegenwärtig zwölf Betriebe und ein großes Vertriebsnetz besitzt. Das französische Unternehmen Danone kontrolliert fast 18 Prozent des russischen Marktes für Sauermilchprodukte und hat vier eigene Betriebe in Russland. Der russische Biermarkt ist unter dem skandinavischen Unternehmen Baltik Beverage Holding, dem niederländischen Konzern Efes Beverages, der dänische Brauerei Carlsberg und dem britischen Bierproduzenten SAB aufgeteilt. Diese Firmen investierten insgesamt mindestens zwei Milliarden Euro in die Branche und kontrollieren 76 Prozent der Bierproduktion in Russland. Die großen Tabakkonzerne BAT, Gallaher, Imperial Tobacco und Altadis sorgen für knapp 65 Prozent der Zigarettenproduktion in Russland.
Mit raschem Tempo entwickelt sich das Netz von Filialen europäischer Banken in Russland. Niederlassungen von fünf davon - Raiffeisenbank, ING, ABN Amro, Dresdner Bank und Societe Generale - gehören mit einem Gesamtkapital von 800 Millionen Euro zu den 100 größten Geldinstituten in Russland. Am Rand großer Städte haben heute Supermärkte wie Ikea, Karstadt, Metro und Auchan Fuß gefasst, in deren Entwicklung die Eigentümer mehr als 2,9 Milliarden Euro investiert hatten.
Noch umfassender sind die Handelsbeziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union. Nach dem Stand von Ende 2003 entfielen 36 Prozent des russischen Exports und 38,5 Prozent des russischen Imports auf EU-Länder. Diese Zahlen wuchsen nach der Aufnahme der zehn neuen EU-Mitgliedern am 1. Mai 2004 spürbar. Vorläufigen Schätzungen zufolge dürften die russischen Aus- und Einfuhren gegen Ende 2004 entsprechend auf 51 Prozent bzw. 46 Prozent steigen.
In den letzten sechs Jahren, als in Russland ein ökonomischer Aufschwung zu verzeichnen war, hat sich der Gesamtexport russischer Waren von 71,3 Milliarden Dollar im Jahr 1998 auf fast 143 Milliarden Dollar im Jahr 2004 verdoppelt. Dabei nahmen die Ausfuhren in EU-Länder mit beschleunigtem Tempo zu - von 23,2 Milliarden auf fast 60,8 Milliarden Dollar oder um 165 Prozent. Die Einfuhren aus EU-Ländern stiegen um mehr als 65 Prozent - von 15,7 Milliarden Dollar 1998 auf 26 Milliarden Dollar in diesem Jahr.
Von riesiger Bedeutung ist ein solcher Aspekt des russisch-europäischen Zusammenwirkens wie gegenseitige Besuche von Bürgern Russlands und der EU. Die den Bürgern Russlands gewährte Reisefreiheit führte dazu, dass EU-Länder schnell die führenden Positionen auf der Liste der Staaten einnahmen, die für die Russen ein Reiseziel sind. 2003 hatten 6,6 Millionen Bürger Russlands bzw. 56 Prozent aller Auslandsreisenden EU-Länder besucht. Bei 2,7 Millionen davon (76 Prozent) handelt es sich um Privatbesuche. 1,8 Millionen reisten als Touristen aus (40 Prozent aller russischen Touristen). 1,4 Millionen Bürger unternahmen Dienstreisen (72 Prozent aller Dienstreisenden).
Ziemlich kennzeichnend ist auch die Statistik der Gegenbesuche in der Russischen Föderation. Zuverlässige Zahlen gibt es nur in Bezug auf 13 EU-Länder. Allein aus diesen Staaten kamen im vergangenen Jahr 5,3 Millionen Bürger nach Russland. Das waren 65 Prozent aller Gäste aus den Ländern außerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).
Dem Zusammenwirken liegt ohne Zweifel die historische und kulturelle Nähe Russlands und der europäischen Staaten zu Grunde. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde Russland zur zweiten Heimat für fast eine Million gebildete Europäer. Europa nahm seinerseits im 20. Jahrhundert knapp 4,5 Millionen Bürger aus Russland auf.
In ökonomischer und kultureller Sicht ist Russland von heute an keinem anderen Partner so stark interessiert wie an den europäischen Ländern und an der Europäischen Union als ganzes. Auch Europa kann in Russland Konkurrenzvorteile finden, die aus den garantierten Lieferungen von Energieträgern resultieren. Dazu gehören auch die Möglichkeiten bei der Erschließung des russischen Marktes, auf dem die Europäer immer erwünschte Teilnehmer sind.
Indes hinterlässt das politische Zusammenwirken zwischen Russland und der Europäischen Union den Eindruck eines Dialogs, den die russische Führung eher kraft einer traurigen Notwendigkeit führt und der keine Hoffnungen auf ernstzunehmende perspektivische Ergebnisse gibt. In den letzten Jahren haben führende russische Repräsentanten keine strikten Erklärungen über ihre Einstellung zum gesamteuropäischen Projekt abgegeben, die zum Beispiel mit der bekannten Erklärung von Präsident Wladimir Putin verglichen werden könnten, der sich mit den USA in ihrem Kampf gegen den internationalen Terr*rismus solidarisiert hatte. Ereignisse, die sich im Rahmen der EU vollziehen, legen russische Politiker unverzüglich im Kontext umfassenderer Tendenzen aus.
Diese spezifischen Beziehungen sind nach meiner Ansicht durch den besonderen Charakter ihrer Gestaltung bedingt. Zur Sowjetzeit hatte es solche Verhältnisse überhaupt nicht gegeben. Die Sowjetunion wurde zum 39. Staat, der die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als Subjekt des Völkerrechts anerkannte und die Beziehungen zu ihr erst 1989 herstellte, zwei Jahre vor dem eigenen Zerfall. Die Gründung der Europäischen Union (Unterzeichnung des Maastricht-Vertrages am 7. Februar 1992 und sein Inkrafttreten am 1. November 1993) entfiel auf eine Zeit, da sich in Russland nur wenige für die Außenpolitik interessierten.
Russland tritt in das 21. Jahrhundert als ein föderativer Mehrvölkerstaat ein, der aber keine tief verwurzelten Traditionen des wahren Föderalismus hat. Dagegen wurden in Europa in den 50 Jahren der Integrationsprozesse einmalige Erfahrungen bei der Abstimmung der Interessen einzelner Subjekte der europäischen Konföderation gesammelt. Diese Erfahrungen gestatten es, im Rahmen der gültigen Gesetzgebung oder deren schrittweiser Vervollkommnung Kompromisslösungen für die kompliziertesten politischen Probleme zu finden. Ich bin der Ansicht, dass es für Russland im Moment keine wichtigere Aufgabe gibt als diese Erfahrungen sowohl im Lande selbst als auch für die Herstellung der Beziehungen guter Nachbarschaft und Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn zu nutzen.
Sowohl Europa als auch Russland braucht Ruhe und Stabilität. Sowohl Europa als auch Russland ist am Kampf gegen den Terr*rismus interessiert.
Einige Handlungen der russischen Führung werden heute in Europa als der europäischen politischen Kultur fremd empfunden. Aber auch europäische Politiker haben es nicht eilig, sich über die russische Spezifik klar zu werden. Beide Seiten sollten einander zu verstehen lernen, genau so wie dies die Bürger unserer Länder tun, genau so wie unsere Unternehmer kooperieren. Erst dann wird das geeinte Europa - vom Atlantik bis zum Ural - im 21. Jahrhundert führend sein, wovon große europäische Politiker lange geträumt haben. (RIA)
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