@Gunnar
Du schreibst, dass Du schon viele Jahre in Russland lebst. Würdest Du mal nachfolgenden Bericht der BaslerZeitung kommentieren?
© Basler Zeitung; 15.10.2004
Der Mann mit den zwei Gesichtern![]()
Der russische Präsident Wladimir Putin und sein bedenkliches Verhältnis zur Demokratie
KLAUS-HELGE DONATH, Moskau
Die Kritik an Wladimir Putin nimmt zu. In Russland, wo der Präsident immer mehr Macht an sich reisst. Und im europäischen Ausland, wo man sich zunehmend fragt, was das wahre Gesicht dieses Politikers ist, der demokratische Rechte so unverhohlen mit Füssen tritt.
Misserfolge können Wladimir Putin kaum etwas anhaben. Fast scheint es so, als sei der Kremlchef immun gegen jegliche Unbill. Fünf Prozent des Wählerzuspruchs büsste Putin nach dem Geiseldrama von Beslan ein. Zwei Drittel der Bürger halten dem Staatschef unverdrossen die Treue. Dabei war der ehemalige Geheimagent dem Image, Russlands neuer Retter und Garant von Stabilität zu sein, im Beslan-Drama überhaupt nicht gerecht geworden. Drei Tage verschwand Putin aus der Öffentlichkeit. Wie vor vier Jahren beim Untergang des Atom-U-Bootes «Kursk».
Doch diesmal folgten auch seine Untergebenen: Geheimdienst und Sicherheitskräfte drückten sich vor der Verantwortung. Nach vier Jahren Putin ist niemand mehr bereit, in brenzligen Situationen eigenständig Entscheidungen zu fällen. Alle schauen nach oben, auf die letzte Instanz.
Nervöse Berater. Obwohl der Bürger Nachsicht zeigt, sind die Paladine der Macht, Polittechnologen und Imagemaker, die seit fünf Jahren an der Legende des Präsidenten feilen, nervös geworden. Ein Prozent Wählerschwund wiegt nach den Messverfahren in der Ära Putin schwer. Auch auf geringfügige Verschiebungen reagiert die politische Elite empfindlich. Dafür gibt es einen triftigen Grund. Das System steht und fällt mit der Popularität des Staatschefs. Schwindet dessen Ansehen, droht das ganze Gebilde in sich zusammenzusacken.
Regierung, Staat und Bürokratie begegnet der Russe mit ausgeprägtem Misstrauen, da er diese meist als Quelle von Willkür und Korruption kennen gelernt hat. Die Diskrepanz zwischen dem Kult um den Präsidenten und Ablehnung der Staatsapparate birgt unterdessen eine latente Gefahr in sich. Als Wladimir Putin 2000 in den Kreml gewählt wurde, zog er ohne eigene Hausmacht ein. Schlagworte wie Stärkung des Staates, Diktatur des Gesetzes, Sicherheit und Ordnung begeisterten nicht nur die Wähler. Die Bürokratie bot sich als willfähriger Gehilfe an.
MÄCHTIGE Bürokratie. Putin päppelte die Bürokratie auf und schaute weg, wenn sie die Menschen verhöhnte, Recht verdrehte und sich im Tausch für Lippenbekenntnisse zu Kreml, Staat und Patriotismus eine Lizenz zur Bereicherung verschaffte. Noch lastet das Volk das Staatsversagen Putin nicht persönlich an, noch kann er schützend die Hand über die Bürokratie ausbreiten. Doch wie lange lässt sich der Spagat zwischen Bürger und Bürokratie aushalten?
Unter Putin hat sich die Gesellschaft vom Staat abgekehrt. Gegen die Verheissung von Stabilität verzichtete ein Teil freiwillig auf Mitwirkung. Andere wurden zum Abdanken gezwungen: die Duma, der Föderationsrat, die Parteien, potenzielle Herausforderer. Die elektronischen Medien verkamen zu Propagandainstrumenten. Als Allheilmittel gegen den Terr*rismus streicht Putin nun die Wahl der Gouverneure in den Regionen und die Kandidatur von Direktkandidaten für die Duma. Beslan bot einen willkommenen Anlass, die Reste der Demokratie beiseite zu räumen.
Als schöne Kulisse ist Demokratie indes unverzichtbar. Denn Putin hat zwei Gesichter, eines für den Export und eins für den Hausgebrauch. Bedenken westlicher Politiker weiss er geschickt zu zerstreuen: Jedes Land habe das Recht auf einen eigenen Weg zur Demokratie! Zivilgesellschaft? Auch dafür macht er sich stark, nur versteht Putin unter Bürgergesellschaft etwas anderes: Bürgerbrigaden sollen demnächst wieder ein wachsames Auge auf den Nachbarn werfen.
MObilmachung. Seit dem Geiseldrama macht Putin mobil. Russland sei von aussen bedroht, sagte er nach Beslan, und Verteidigungsminister Igor Iwanow erklärte im Abspann: «Russland befindet sich im Krieg.» Der Kampf um den Kreml ist entschieden. Geheimdienst und Sicherheitsstrukturen haben die letzten Liberalen aus der Bastion vertrieben. Nun werden nur noch die KGB-Kollegen dem Präsidenten soufflieren, gegen die er sich ohnehin nie durchsetzen konnte. Der Status einer privilegierten Geisel ist ihm gewiss. Immerhin hat er es geduldet, als sich die handverlesenen Vertrauten die wichtigsten Direktorenposten in staatlichen Konzernen unter den Nagel rissen. Damit droht dem System auch von Seiten einer kapitalistischen Grossbourgeoisie kein Widerspruch mehr. Eine Allianz aus Geheimdienst, Militär, Bürokratie und Kapital bildet die neue herrschende Klasse mit dem Volk als Manövriermasse.
Vor 150 Jahren bezeichnete Karl Marx diese Regierungsform als Bonapartismus. Sie zeichnete sich dadurch aus, die Anarchie im Namen der Ordnung selbst zu erzeugen. Heute ist dies das Wesen des Putinismus.
Putin in China
PEKING. Zuzeit ist der russische Präsident Putin auf Staatsbesuch in China. Die Hoffnungen der Chinesen, dass es nach zehnjähriger Verhandlung endlich zum Bau der gemeinsamen Ölpipeline kommt, wird er wohl enttäuschen. Die für China so wichtige Pipeline will Russland lieber nördlich an China vorbei zum russischen Hafen Nachodka führen.
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